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Forschung

Die Produktion von Zahlen in bäuerlichen Betrieben dienten sowohl der Quantifizierung der eigenen Arbeit als auch der Kommunikation mit der Industriegesellschaft.

Die agrarisch-industrielle Wissensgesellschaft

In diesem vom Schwei­zerischen Nationalfonds zur Förderung der wissen­schaftlichen Forschung finanziell unterstützten Forschungsprojekt analysierte das Archiv für Agrar­geschichte die agrarisch-industrielle Wissens­gesellschaft im 19./20. Jahrhundert.

Als agrarisch-industrielle Wissens­­gesellschaft (AIW) werden jene Akteure, Institutionen und Diskurse bezeichnet, die seither an der Transformation und Weiterentwicklung des Agrarsektors massgeblich beteiligt waren und damit bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts auch einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der Industriegesellschaft ausübten. Von einer agrarisch-industriellen Wissens­gesellschaft sprechen wir deshalb, weil an diesem komplexen Entwicklungsprozess Akteure und Institutionen sowohl aus dem Agrarbereich und der Industriegesellschaft beteiligt waren, deren Wissenssysteme durch soziale und diskursive Interaktionsformen konstituiert wurden.

Entstanden ist die AIW, so die Ausgangsthese, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich zwischen der Industriegesellschaft und ihrem Agrarsektor ein ressourcenbedingtes Spannungsfeld bildete, weil sich als Folge der thermo-industriellen Revolution die Grenzen und Potenziale der Produktion im Agrar- und Industriebereich ungleich entwickelten. Die Akteure, die diesen grundlegenden Unterschied zwischen der Industriegesellschaft und ihrem Agrarsektor in der Mitte des 19. Jahrhunderts wahrgenommen haben, bilden gewissermassen den Kern der AIW. Zu ihr gehörten in der Folge sowohl diejenigen, die versuchten, die bäuerliche Landwirtschaft nach der Logik der Industriegesellschaft zu modellieren wie auch diejenigen, die diese Zugriffe aktiv zurückwiesen und bäuerlichen Entwicklungsvorstellungen zum Durchbruch verhelfen wollten. Zur AIW gehörten aber auch diejenigen Akteure und Institutionen, die sich zwischen diesen Polen bewegten und in der Folge die Modernisierung sowohl des Agrar- als auch des Ernährungssektors wesentlich prägten. In diesem, in der neueren Literatur auch als Prozess der "Integration durch Unterordnung" bezeichneten Wettbewerb um die Deutungshoheit über den "richtigen" Umgang mit der bäuerlichen Landwirtschaft spielten die Generierung, Verbreitung, Transformation und Verweigerung von Wissensformen eine zentrale Rolle. Dabei orientierte sich das identifizierte und propagierte "nützliche Wissen" zunehmend, aber nie ausschliesslich, an den für die Industriegesellschaft charakteristischen Technologien sowie den Formen der Arbeitsorganisation. Weil zudem immer wieder versucht wurde, auch die agrarische Produktion von der Nutzung lebender auf die Grundlage des Verbrauchs mineralischer Ressourcen zu stellen, ermöglicht eine Analyse der Wissensdiskurse in diesen drei Bereichen die wechselnde Zusammensetzung der AIW sicht- und damit als Untersuchungsgegenstand auch thematisierbar zu machen.

Gefragt wurde in diesem Projekt nach den unterschiedlichen Wissensformen und der Bedeutung, die ihnen bei der Konstituierung und Entwicklung der AIW zukamen. Gefragt wurde auch, wie sich die AIW sowohl auf den Agrarsektor als auch die Industriegesellschaft ausgewirkt haben und ob heute überhaupt noch von einer agrarisch-industrielle Wissensgesellschaft gesprochen werden kann – oder was allenfalls an ihre Stelle getreten ist?

Das Projekt,  wurde im Frühling 2018 mit der Publikation des Bandes „Die Agrarfrage in der Industriegesellschaft. Wissenskulturen, Machtverhältnisse und natürliche Ressourcen in der agrarische-industriellen Wissensgesellschaft (1850-1950)“ abgeschlossen.